Was lernen wir daraus?

Wir leben in spannenden Zeiten: Corona, Suez-Kanal, Ukraine-Invasion, Lieferketten-Disruptionen … Seit zwei Jahren erleben wir globale Krisen, mit zunehmender Geschwindigkeit nahtlos aneinandergereiht. Ich ertappe mich manchmal selbst dabei, wie ich morgens kurz nach dem Aufstehen aufs Handy schaue und instinktiv hoffe, dass nicht wieder was kommt, was noch schlimmer ist als alles Dagewesene.

Selbst wenn man der medialen Überdramatisierung von Krisen keinen Glauben schenkt, kann einem beim Anblick der aktuellen Katastrophenmeldungen angst und bange werden. Wenn uns dann hier am Wissenschaftsstandort Dortmund die besorgten Anfragen aus der Praxis zu Fragen der Supply Chain Resilience erreichen, wiederholen wir gebetsmühlenartig die Empfehlung: Vertrauen Sie auf die neuen Technologien in allen ihren Ausprägungen, Kombinationen und Anwendungen! Damit machen Sie am nachdrücklichsten Ihre Lieferketten krisensicher(er). Technologien, wie wir sie hier in diesem Blog regelmäßig thematisieren. Und dennoch habe ich aus verschiedenen Diskussionsrunden nach diversen Vorträgen in den letzten Wochen einen Impuls mitbekommen, der mir seither nicht mehr aus dem Sinn geht. Mir ist diese Frage in letzter Zeit immer wieder gestellt worden: Lernen wir genügend aus all diesen Krisen?

Churchill sagte einmal: Never let a good crisis go to waste! Locker übersetzt: Man sollte aus jeder guten Krise etwas mitnehmen! Tun wir das? Wirklich? Der Volksmund behauptet, dass wir aus Fehlern lernen. Kurt Tucholsky bezweifelte das: „Man kann auch 30 Jahre etwas falsch machen.“ Gewiss: Bislang haben wir noch jede Krise gemeistert. Mal gut, mal weniger gut. Aber das meint die Frage nach dem Krisenlernen ganz offensichtlich nicht. Krisenmanagement ist selbstverständlich. Krisenlernen ist es augenscheinlich nicht. Dabei müssten wir angesichts der schieren Anzahl und Intensität der Krisen der letzten 20 Jahre eine geradezu unglaubliche Menge gelernt haben. Haben wir das? Wer hat das? Und wer es nicht hat: Was hindert ihn und sie daran?

Vielleicht ist dieses Hindernis dasselbe, das viele in der Praxis davon abhält, die reichen Potenziale dieser neuen Technologien, die ja zweifellos praxistauglich und vorhanden sind, ausreichend zu nutzen. Nennen wir dieses Hindernis eine Lernblockade. Ist diese Blockade ein Grund, weshalb wir immer und immer wieder unnötig heftig mit Krisen ringen, davon betroffen, ja oft sogar davon überrascht sind? Von Krisen? Als ob Krisen jemals überraschend gewesen wären. Als ob es ein vorstellbares Universum ohne Krisen gäbe! Das nennt man dann wohl Paradies. Wir leben in keinem solchen, wie jeder weiß, der schon einmal die Nachrichten gesehen hat. Was hält uns davon ab, alles aus der gestrigen Krise zu lernen, um die morgige noch besser zu meistern?

Ich bin kein Psychologe oder einer, der sich mit der menschlichen Resilienz auseinandersetzt (wobei es interessant wäre, was Psychologen zur aktuellen Lernschwäche im Business zu sagen haben). Ich kümmere mich eher und u. a. um die Resilienz von Lieferketten und Wertschöpfungsnetzwerken. Doch für mich bedeutet eben diese Supply Chain Resilience, dass wir aus jeder Krise unsere Lektionen lernen sollten – und auch das könnte ein rein organisatorisches Lernhemmnis sein: Wie viele Unternehmen kennen Sie, in denen nach mehr oder weniger erfolgreicher Krisenbewältigung rein organisatorisch Formate wie Lessons Learned oder Retrospektiven, wie sie heutzutage heißen, abgehalten werden? Wie soll man denn ohne solche organisatorischen Formate und deren detaillierte Dokumentation plus redaktionelle Verarbeitung in so etwas wie einem Krisenhandbuch „etwas draus lernen“? Von selbst? Durch Osmose oder göttliche Eingabe?

Oft habe ich den Eindruck, dass viele nach überstandener Krise derart froh sind, die Krise überstanden zu haben, dass sie nicht schnell genug wieder zum Business as usual übergehen können und vor allem wollen. Ich kenne viele Führungskräfte, die inmitten der Krise voll im Firefighting-Modus managen. So lange, bis alles überstanden ist. Dann sind sie total erschöpft, erholen sich erst einmal von der Strapaze, setzen „Das neue Normal“ auf – und sind froh, die Krise vergessen zu können. Verständlich. Menschlich. Fatal.

Wer akutes Krisenmanagement betreibt, ist in der Hitze der Krise zu sehr beschäftigt, um seine Lektion zu lernen. Nach der Krise sind wir dann zu sehr damit beschäftigt, wieder in den alten Trott zurückzukehren, um noch ans Lernen zu denken. Zu beschäftigt vielleicht für posttraumatisches Wachstum, wie die Psychologen sagen. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich das ändern muss. Dass wir mehr aus Krisen lernen müssen – denn sie werden absehbar nicht weniger. Eher im Gegenteil. Vielleicht ist die aktuell geballte Massierung der unglaublichen Verwerfungen auch so etwas wie ein Weckruf zur Erkenntnis: So kann, so darf es nicht weitergehen! Wir müssen mehr aus Krisen machen. Mehr lernen, besser werden. Was hält uns davon ab?

Die Hierarchie? Die Bürokratie? Die eigene Masseträgheit? Was meinen Sie? Oder täusche ich mich? Vielleicht lernen ja einige alles aus jeder neuen Krise, was zu lernen ist. Ich würde gerne von ihnen hören oder lesen. So oder so, ob wir daraus lernen oder nicht: Es sind nicht die Krisen, die uns das Leben schwermachen. Es ist das Daraus-Lernen, das uns das Leben leichter machen kann. Wenn wir wollen. Wenn wir können. Können wir?

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